Theater Narrenschiff

André Decker

15 Jahre - 15 Fragen . Das tn-Ensemble interviewt sich.

Judith Binias, Cäcilie Möbius und Julian Pfahl haben unseren künstlerischen Leiter, Hausregisseur und Darsteller zu 15 Jahre Theater in Unna befragt. André hat nach seinem Tanzstudium in Köln und Amsterdam seit 2003 über 70 Produktionen fürs tn inszeniert und choreographiert und hat als Darsteller in über 50 Stücken auf unserer Bühne gespielt. Im laufe der Jahre hat André neben dem Schauspiel auch das Tanz- und Musiktheater in unserem Spielbetrieb etabliert und förderte mit unserem jungen Ensemble bloßgestellt und dem Jugendmusicalprojekt Freie Wildbahn die Jugendtheaterarbeit in Unna.

André Decker . Künstlerischer Leiter und Ensemblemitglied seit 2003

„Nichts von dem was wir machen ist selbstverständlich. Das versuche ich nie zu vergessen.“

Julian: Lieber André, zum Anfang: hättest du vor 15 Jahren irgendwie geahnt, dass es zu diesem Jubiläum kommen könnte? Oder habt ihr damals im ersten Ensemble zumindest drüber gescherzt?

André: Als ich 2002 zurück nach Unna gekommen bin, und wir mit einem Projekt des damals noch bestehenden Stadtspielwerks „Politisch korrekt – oder das letzte Abendmahl“ im theater narrenschiff spielten, war zunächst gar nicht geplant, dass es weitere Produktionen geben sollte. Wir waren damals alle noch relativ jung. Die meisten waren Studenten, oder grade mit ihrem Studium fertig. Wir waren also quasi alle in einer Orientierungsphase. Deswegen beschlossen wir, ein Stück nach dem anderen zu machen. Dann sofort auch als narrenschiff Produktionen. Als mir dann 2003 die künstlerische Leitung des tn übertragen wurde, und wir den festen Spielbetrieb eingeführt haben, ging es dann schon um Verbindlichkeit. Also haben wir immer in Zeitabschnitten geplant, „wie lange wir noch mindestens weiter machen“. Im Laufe der Jahre ist diese Frage allerdings langsam weggefallen. Ich freue mich sehr, dass wir das jetzt schon seit 15 Jahren gemeinsam machen! Eine tolle Zeit!

Cilly: Du machst wahnsinnig vielseitige Inszenierungen. Es gibt Klassiker und moderne Stücke, Tanztheater, Musicals, Jugendprojekte. Gibt es eine Sparte, die dir besonders am Herzen liegt? Und wonach suchst du die Projekte oder jeweiligen Stücke für den Spielplan aus?

André: Ich liebe meine Arbeit sehr! Einer der Aspekte, den ich am meisten an ihr schätze, ist die Vielseitigkeit. Und so versuche ich auch unseren Spielplan zu gestalten. Ich finde es befreiend, nicht festgelegt zu sein. Da ich einen tänzerischen Background habe, freut es mich sehr, dass wir unsere Tanztheatersparte mittlerweile kontinuierlich bedienen und dass das Musiktheater einen großen Stellenwert eingenommen hat. Und ich arbeite auch sehr gerne mit Jugendlichen, und habe grade auch die bloßgestellt-Projekte oder die Musicalproduktionen vom Projekt Freie Wildbahn als besonders herzlich und intensiv erlebt. Aber unser Standbein wird immer das Schauspiel mit unserem Ensemble bleiben. Das ist unser Ursprung und das ist auch unsere größte Schnittmenge. Und meistens vermische ich ja auch all diese Sparten in meinen Inszenierungen. In einem Drama, zum Beispiel, wird auch oft gesungen und getanzt, und nicht selten spielen Darsteller aus den Jugendprojekten als Gäste in den Stücken mit.

Julian: Deine Stücke thematisieren nie penetrant, dass wir uns in Unna befinden. Ist die Stadt trotzdem wichtig für die Art, wie du Theater machst? Glaubst du, dass dein Theater in einer anderen Stadt ein anderes wäre?

André: Ich glaube vor allem, dass es keinen Unterschied macht, wo man was macht. Viel entscheidender ist, DASS man es macht. Natürlich spielt das Publikum immer eine Rolle, denn für die Zuschauer machen wir ja das Ganze. Ich habe unser Publikum immer als sehr aufgeschlossen erfahren. Gut, es gibt natürlich immer Menschen, die Vorlieben haben und sich vielleicht nicht alle Stücke bei uns angucken. Aber ich glaube, das gibt es überall. Wenn allen alles gefällt, ist es sicherlich nicht besonders kontrovers. Aber, das wunderbare am Theater ist doch, dass man sich in andere Welten, andere Zeiten begibt – und doch kann man sich mit den Bühnenfiguren identifizieren. Ich glaube, da braucht man nicht den lokalen oder aktuellen Bezug mit dem Holzhammer. Aus einem guten Theaterstück kann eigentlich jeder etwas mit nach Hause nehmen. Ob nun am Broadway oder in einer Kleinstadt.

Judith: „All the world´s a stage“ - findest du, dass auch eine Bühne, bzw. das Theater eine gewisse Reifezeit oder Lebensphasen durchlebt? Und wie definierst du den Erfolg eines Theaters?

André: Ich vermute es stark. Unser Theater ist in den Jahren zwar im Grunde das geblieben, was es immer war, aber dennoch gab es stetig Wandel, Entwicklung und Neuentdeckung. Vieles passiert im Leben in Phasen und so war das bei uns auch. Oder vielmehr, ist es! Man lernt ja nie aus und interessiert sich ständig für neue Dinge. Nils sagt, er hofft, dass wir nie die Neugier verlieren. Das kann ich nur unterstreichen. Den Erfolg eines Theaters messe ich in Liebe und Dankbarkeit.

Julian: Ich war ja an mehreren Tanzproduktionen im tn beteiligt. Jedes Mal habe ich viele Menschen im Publikum getroffen, die an diesem Abend zum ersten Mal in einem Tanzstück sitzen. Achtest du bewusst darauf, dass diese Menschen einfach Zugang finden oder passiert das eher nebenbei?

André: Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass Menschen Angst haben, Kunst nicht zu verstehen. Und deswegen umgehen sie sie. Vielleicht, weil sie sich nicht dumm fühlen möchten oder befürchten, sich stark bei der Auseinandersetzung zu langweilen. Ich halte nichts von Theater, was einem Zuschauer ein solches Gefühl gibt. Und ich muss auch sagen, dass wir stark damit zu kämpfen hatten, grade in den Anfangsjahren, Leuten zu vermitteln, dass es Spaß macht, ins Theater zu gehen. Bei Tanztheaterproduktionen, erwische ich mich immer wieder dabei, dass ich meinen Zuschauern sage: „Es ist, was es ist. Sieh hin, da gibt’s nichts misszuverstehen.“ Ich meine, wenn du dich auf Theater, oder Kunst allgemein, einlässt, macht es immer was dir. Im Endeffekt ist Kunst eigentlich nur dazu da, uns SELBST besser zu verstehen.

Julian: Cilly hat in ihrem Interview gesagt, dass du eine sehr filmische Art zu inszenieren hast. Das sehe ich genauso. Tatsächlich kommst aber auch nicht vom Film, sondern vom Tanz. Wie sah dein Theaterleben vor dem narrenschiff aus? Hat Schauspiel dich auch geprägt, oder spielte das eher eine kleinere Rolle in deinem Leben?

André: Ich habe schon immer Theater gespielt und schon ganz früh angefangen, eigene kleine Theaterstücke zu schreiben, die ich dann selbst mit meinen Klassenkameraden in der Schulpause inszeniert habe. Dann Literaturkurs, Theater-AGs; ich war auch Teil des Jugendclubs des narrenschiff, damals noch in Massen, und da habe ich auch Cilly kennengelernt. Leider haben wir da nie etwas zur Aufführung gebracht. Aber dann trat mit ca. 16 Jahren das Ballett in mein Leben. Und da ich sehr spät für einen Tänzer damit angefangen hab, und mich der Wunsch antrieb, das vielleicht beruflich zu machen, trainierte ich wie ein Verrückter nach der Schule, 5-6 Stunden jeden Tag. Da blieb dann keine Zeit mehr fürs Theater spielen. Als ich nach meinen Tanzstudium beschloss, doch kein Berufstänzer zu werden, war es für mich nur natürlich, zurück zum Schauspiel zu gehen. Aber ich habe in meinem Studium so viel gelernt, Stücke choreographieren, Disziplin und Durchhaltevermögen, was ich eins zu eins in meiner Theaterarbeit anwenden konnte. Deswegen sehe ich meine „Tanzjahre“ als alles andere als verschwendete Zeit an.

Cilly: Wer hat dich als Regisseur am meisten beeinflusst und von wem hast du am meisten gelernt?

André: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich glaube, ich lasse mich wirklich von allem inspirieren, was ich sehe und mag. Es gibt in meinen Augen große Künstler, die ich sehr schätze. Wie zum Beispiel Andy Warhol, David Bowie, Pina Bausch, Philipp Glass oder David Lynch, und die haben mich alle sicherlich beeinflusst. Viel passiert ja auch unbewusst. Welchen Gedanken hat man schon, ohne eine Referenz dazu zu haben. Aber es stimmt, ich liebe Filme noch länger als das Theater, und deswegen kann es schon gut sein, das meine Stücke irgendwie „filmisch“ wirken.
Am meisten gelernt habe ich, glaube ich, von mir selbst. Ich hatte in dem Sinne ja keine Lehrer. Ich glaube sehr an das „learning by doing“ Prinzip. Ich versuche aus meinen Fehlern zu lernen, und es beim nächsten Mal besser zu machen.

Cilly: Was ist für dich als Regisseur die wichtigste Qualität bei einem Schauspieler und besteht ein Unterschied zu dem, was du dir von einem Spielpartner auf der Bühne wünschst?

André: Ich denke Offenheit und Spielfreude sind das Wichtigste. Im Idealfall Vertrauen, zu mir, als Regisseur, sich selbst und zu den Mitspielern. Man muss halt viel ausprobieren als Schauspieler, da sollte man sich im Probenraum sicher und auch irgendwie geborgen fühlen. Deswegen muss man auch immer ein Teamplayer sein, weil man immer auch für das Wohlergehen alle anderen Mitspieler Verantwortung trägt.

Judith: Und was, glaubst du, ist die wichtigste Eigenschaft, die ein Regisseur mitbringen muss?

André: Geduld! Aber im Ernst, die Ruhe zu bewahren, und den Überblick nicht zu verlieren, sind sehr entscheidend. Du musst als Regisseur immer das ganze Stück im Kopf haben, tausend Fragen beantworten können und auch mal den Schauspieler*innen erklären, dass ihr oder sein persönlicher Wunsch für eine Rolle nicht wirklich in das Gesamtkonzept passt. Gleichzeitig muss man aber auch offen für alle Ideen sein. Empathie sowohl für Rollen, als auch Darsteller, ist wichtig. Aber grundsätzlich geht es darum, eine Idee oder Vision zu haben und diese gemeinsam mit dem Ensemble zu erarbeiten und dabei ein Ambiente zu schaffen und schützen, wo dies möglich ist. Nichts von dem was wir machen, ist selbstverständlich. Das versuche ich nie zu vergessen.

Cilly: Wie gehst du an eine Rolle heran? Recherchierst du viel, helfen dir Kostüm und Maske bei der Rollenfindung, basierst du Charaktere auf realen Personen?

André: Meistens spiele ich ja in meinen eigenen Stücken mit, wenn ich Theater spiele. Deswegen beschäftige ich mich ja schon sehr früh mit allen Rollen, so dass ich dann vor Probenbeginn schon eine ziemlich genaue Vorstellung habe, wohin die Reise geht. Da ich schon zu Beginn auch eine klare Vorstellung von der Bühne und den Kostümen hab, die in dem Stadium noch nicht vorhanden sind, habe ich da als Darsteller im Team einen kleinen Vorteil. Das Ganze dann so umzusetzen, ist harte Arbeit, für mich wie für alle anderen auch.

Judith: Du bist mit „Ich - ein Jud´“, 2010 inszeniert von Kirsten Ullrich-Klostermann, durch Nordrhein Westfalen getourt und hast das Stück in vielen Kirchen gespielt. Wie bist du damit umgegangen, dass viele Zuschauer in ihrem ganz persönlichen Glauben angesprochen waren und wie waren die Reaktionen?

André: Judas zu spielen, war als Darsteller für mich wohl die intensivste Erfahrung. Ich glaube, damit bin 6 Jahre lang getourt. Immer mit dir zusammen, Judith, in dutzenden von Kirchen im Ruhrgebiet! Da gibt es unzählige Anekdoten. Jeder Vorstellungsort war ein neuer, und immer andere Leute, die mich alle zuvor nicht kannten (außer in den Vorstellungen in Unna). Es gab ab und an Nachgespräche und die Zuschauer haben oft auf Grund des Vorstellungsraumes, der Kirche, also dem Ort, der ihren Glauben symbolisiert, das Ganze nicht so wirklich als Theatervorstellung erfahren. Das war für mich sehr besonders. Auch befremdlich manchmal. Weil einige Leute anscheinend wirklich mit ihren Glauben in Konflikt gekommen sind, wofür ich vor allem Walter Jens’ außerordentliches rhetorisches Talent verantwortlich mache. Aber es gab so manche Situation, wo ich dann auch irgendwie nach der Vorstellung noch der Judas war, der grade einen ganz anderen Blickwinkel auf das Geschehen der Zeit, als Jesus gekreuzigt wurde „offenbart“ hat. Das war irgendwie schräg, aber natürlich ist das alles sehr sensibel und man muss da auch behutsam mit umgehen. Wir wünschen uns immer das Theater bewegt. Das hat auf jeden Fall funktioniert. Und ich fand das ein großes Geschenk.

Julian: Welche Produktion bleibt dir bis heute besonders in Erinnerung und warum?

André: Das waren wirklich viele! Ich denke oft an alte Produktionen zurück. Manchmal inszeniere ich Stücke sogar mehrfach. Es ist ja nicht immer das gleiche Ensemble von Darstellern. Deswegen hat jede Produktion ihre eigene eingeschworene Familie, die es so nur zu dieser Zeit gibt. Aber natürlich gibt es Stücke, die mir besonders am Herzen liegen: „Angels in America“, „Le Sacre du Printemps“, „Hexenjagd“, „Hitzewelle“, „Hedwig & the Angry Inch“, „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ „Alice“ oder „Runnin´ Wild“ um nur einige zu nennen. Und da ist noch nicht mal EIN Shakespeare dabei.

Judith: Wenn du alle Möglichkeiten, die eine Bühne zu bieten hat, hättest, welches Epos würdest du gerne mal auf eine Bühne bringen? Dream big!

André: Gerne hätte ich in der Tat mal die Gelegenheit, alles was ein Bühnenraum zu bieten hat, nutzen zu können. Und wenn ich die Möglichkeit hätte, würden mir bestimmt viele Stücke einfallen, die ich dann machen möchte. Aber im narrenschiff haben wir es ja ein bisschen so gehalten: großes Theater auf kleiner Bühne. Und das unterscheidet uns vielleicht von vielen freien Theatern, dass wir auf unserer Bühne ganze Schlachten austragen oder mit 20 Darstellern die Hexenjagd spielen. Es trotzdem möglich zu machen, ist die Kunst.
Aber natürlich gibt es Projekte, die man bei uns dann einfach nicht durchführen kann. Ich würde z.B. sehr gerne einmal die „Passion Christi“ inszenieren. Mit Orchester, mit Statisten und allem Drum und Dran. Wer weiß…

Judith: Du bist ein Freund der schönen Dinge. Ein Ästhet könnte man sagen. Gediegene Törtchen sind von dir geliebt, du interessierst dich für Mode und auch Museen der schönen Künste besuchst du oft. Stimmst du Lagerfeld zu, der von Trainingshosen nichts hält? Glaubst du, dass Ästhetik eine unmittelbare Wirkung auf die Welt hat?

André: Ja, daran glaube ich ganz fest. Wenn wir uns alle mit mehr schönen Dingen beschäftigen würden, ginge es uns und der Welt sicherlich besser. Wenn jeder nur schöne Dinge produzieren oder zumindest konsumieren würde, würde es viele Probleme nicht geben. Aber das ist ja nicht realistisch, leider. Aber trotzdem sollte man nicht aufhören dafür zu werben. Im Theater kann man ja auch grade traurige Momente oder auch brutale, in einer gewissen Form ästhetisch darstellen. Um dieses „Schreckliche“ erträglich zu machen, so, dass wir uns damit auseinandersetzen können. Und ich schätze Karl sehr, aber mit den Jogginghosen, soll es jeder so halten wie er oder sie es mag.

Julian: Das tn ist nicht das größte Theater der Welt, hat aber auch auf kleinem Raum sehr unterschiedliche Ecken. Was ist dein ganz persönlicher Lieblingsort im tn? Und warum?

André: Ganz klar die Bühne. Das ist der Ort, wo alles angefangen hat, wo alles, was wir machen, entsteht. Es ist der ehrlichste und besonderste Ort. Auf der Bühne sind alle Erinnerungen festgehalten, alle Stücke, jeder Darsteller und sie symbolisiert alles, wofür wir stehen. Auf unserer Bühne haben wir in den letzten 15 Jahren fast 100 Produktionen gestaltet, auf Premierefeiern Nächte lang durchgetanzt, zusammen gelacht und geweint, sind hingefallen und wieder aufgestanden und haben tiefe Freundschaften geschlossen. Es ist der magischste Ort in meinem Leben, wofür ich unendlich dankbar bin.

Interview, Sommer 2017